Rückblick vom 10.9.2016
Wir sind hier. Nie hätte ich bei unserer Planung auch nur im Entferntesten daran gedacht, dass wir einmal hier hindurchfahren würden! Äthiopien, unnahbar, am anderen Ende der Welt, kaum touristisch erschlossen, wilde Völker, 85 Sprachen, Reich des Prieserkönigs Yohannes, Dach Afrikas, Ursprung des Kaffees, Hungerland.

Wir sind an diesem Morgen nach einer äußerst stürmischen und dadurch schlaflosen Nacht in Marsabit (Nordkenia) sehr früh gestartet, schon um 7 Uhr sind wir auf der Straße: Die vor uns liegende Fahrt ist weit, 270 km durch unwirtliche Wüste liegen vor uns bis zum Grenzübergang nach Äthiopien. Und auch danach ist weit und breit kein Campingplatz in Sicht. Ziel des heutigen Tages: So weit wie möglich kommen.
Was habe ich mir Gedanken gemacht über den wilden Norden Kenias! Welche Geschichten von schlechten Straßen und Raubüberfällen haben wir gehört! Und jetzt: die Straße ist niegelnagelneu – die beste Kenias bisher und von den Chinesen gebaut – und wir brausen auf ihr mit 70 km/h dahin. Es ist so gut wie kein Verkehr. Die Gegend ist unwirklich: nichts als Lavasteine, Sandstürme und Dornenbüsche. Hin und wieder weht es den Sand so dicht über die Straße, dass die Sicht nur noch sehr eingeschränkt ist. Und es stürmt wie wahnsinnig.
In dieser menschenfeindlichen Umgebung sehen wir trotzdem immer wieder Menschen, die mit ihren Kamelen oder Eseln zum nächsten Wasserloch oder sonst wo hinziehen. Wir schütteln den Kopf darüber, wie man her überleben kann. Was muss das für ein Leben sein? Auch die Blicke der Wüstenmenschen scheinen uns etwas misstrauischer zu sein als die der übrigen Kenianer, die uns bisher am Straßenrand so fröhlich zuwinkt haben.

Um halb 12 ist Moyale – die kenianische Grenzstadt – in Sicht. Der Grenzübergang ist eine einzige riesige Baustelle. Beeindruckend große Gebäude für eine – wie es uns scheint – rosige Zukunft des kenianisch-äthiopischen Grenzverkehrs werden hier gebaut. Wr scheinen eine der ersten zu sein, die diese einweihen. Auf kenianischer Seite geht alles schnell und problemlos: Pässe ausstempeln, Carnet ausstempeln, weiterfahren. Keine Verkäufer, kein Stress, alles übersichtlich.
Dann weiter zur äthiopischen Seite. Der Mann vom Immigration-office wollte gerade Mittagspause machen, aber netterweise fertigt er uns noch ab. Obwohl wir ja ein Visum im Pass haben, dauert diese Prozedur eine gefühlte Stunde: von jedem Einzelnen Daten aufnehmen, in ein Buch und in den PC eintragen, Fingerabdrücke aller Finger nehmen, Foto machen, Adresse eines fiktiven gebuchten Hotels in Addis Abeba eintragen.
Als wir endlich fertig sind, müssen wir noch zum „Customs“ wegen des Carnets. Dieses befindet sich 500m weiter mitten in der Stadt. Wir finden es, nur leider hat das heute schon geschlossen. Es ist nämlich äthiopischer Silvesterabend, morgen ist äthiopisches Neujahrsfest und übermorgen ist auch noch Feiertag. Das Büro öffnet erst wieder am Dienstag!

Nanu, was sollen wir jetzt tun? Wir beschließen, erst einmal loszufahren. Entweder wir können das Carnet in Addis Abeba abstempeln lassen, oder aber vielleicht lassen wir es ganz, denn bis jetzt wollte auch noch nie jemand unser Carnet sehen. Also, los! Inzwischen hat sich auch schon eine ganze Traube Menschen um unseren Onkel angesammelt, sie begrabschen ihn und versuchen, einige der Fächer aufzubekommen oder die Schnallen vom Fahrrad zu lösen. Nix wie weg! Wir fahren an und sie versuchen sogar noch, sich am Trittbrett festzuhalten und mitzufahren!
Aber wir kommen nicht weit – zum Glück, wie sich im Nachhinein herausstellt. Die erste Polizeikontrolle nach ca. 5 km verlangt von uns den „Customszettel“ bzw. unser Carnet. Na so was gab es ja noch nie! Wir erklären dem Officer die Sachlage, aber er schickt uns zurück. Wir wollen nicht. Es geht hin und her, wir bitten ihn mitzufahren, er kann aber seinen Posten nicht verlassen. Schließlich ruft er den Verantwortlichen an, wir drehen doch um und fahren wieder nach Moyale.
Glücklicherweise treffen wir gleich auf der Straße den Beamten vom Immigrationoffice, der vor einer Stunde unsere Pässe abgestempelt hat. Auch er bemüht sich und hilft uns, die Beamten vom Zoll aufzutreiben. Gemeinsam mit uns fährt er zum Customsgebäude. Hier sollen wir warten. OK, das war leider auch die Stelle, an der sich vorher so eine Menschentraube innerhalb kürzester Zeit eingefunden hat. Wir entschließen uns, in das Straßenrestaurant neben dem Bürogebäude zu sitzen und etwas zu trinken. Es gibt nur Softgetränke, leider keinen Kaffee oder Tee. Wir setzen uns so, dass wir unseren Onkel gut im Blick haben. Schon wieder schleichen einige Kinder um ihn herum. Jochen muss zweimal aufspringen, weil sie wieder versuchen, etwas aufzubekommen. Dann taucht plötzlich der Zollbeamte auf. Wie ein Beamter sieht er gar nicht aus, es ist eher ein junger recht freundlicher Kerl in Zivil. Jochen folgt ihm, als obliegt uns das Bewachen vom Onkele. Ich finde es aber blöd, so in 10m Entfernung zu sitzen und als wir unsere Cola ausgetrunken haben, gesellen wir uns zu den Kindern. Sie freuen sich sehr, leider können sie so gut wie kein Englisch. Alle wollen unsere Hand schütteln, Juli und Mio bekommen sogar von dem ein oder anderen einen Handkuss! Die meisten der Kinder sehen sehr ärmlich aus, sie sind von Kopf bis Fuß staubig und tragen verrissene oder noch zu große Klamotten. Wir versuchen ein wenig Kommunikation und den ein oder anderen Spaß zu machen. Die interessierte Menge wächst immer mehr an, inzwischen haben auch einige Motorradfahrer gehalten, Jugendliche stehen herum. Wir sind mal wieder eine Attraktion!
Endlich kommt Jochen und erlöst uns! Er hat das Carnet und das geforderte Papier. Wir steigen ein, natürlich wollen die Kinder nun auch noch Geld oder etwas zu essen. Sie sind uns aber nicht böse, als wir abfahren ohne etwas zu geben.

Die Polizeikontrolle am Ortsausgang ist nun zufrieden mit uns und lässt uns durch. Unsere ersten Kilometer durch Äthiopien führen uns durch eine ähnliche Landschaft wie bereits in Nordkenia. Hier genau verläuft der große afrikanische Grabenbruch, der den Kontinent von Nord nach Süd durchquert. Rechts und links von uns steigt das Land an bis zum Hochgebirge. Es ist eine wunderschöne trockene Halbwüstenlandschaft, durch die wir fahren. Vereinzelt kommen wir an kleinen Dörfern aus Bambushütten vorbei, die Menschen sind freundlich und scheinen uns wohlgesonnen. Es wachsen sogar wieder Bäume und die Schirmarkazien sehen richtig afrikanisch aus.

Gegen 18.30 Uhr – nach knapp 500 km Fahrstrecke inklusiv Grenzübergang! – finden wir endlich einen Übernachtungsplatz. Eigentlich dachten wir, wir hätten einen einsamen Platz entdeckt, aber naja, wir sind in Äthiopien, hier ist man nie allein! Sobald wir stehen, schauen auch schon die ersten Menschen neugierig, aber respektvoll vorbei. Es sind die Bewohner eines einfachen Bambushüttendorfes, in dessen Nähe wir gelandet sind. Hier im äußersten Süden Äthiopiens wohnt das Wüstenvolk der Oromo, die noch ganz ihren Traditionen und Gebräuchen verhaftet sind und so gut wie keine Zivilisation kennen. Die Sprachbarriere ist hoch, ein junger Mann kann immerhin etwas englisch, der Rest der Dorfbewohner starrt uns nur an. Wir sind ziemlich k.o., fühlen uns recht wohl an dieser Stelle und beschließen zu bleiben. Wir winken der Menschenmenge vor unserer Tür ein paar Mal freundlich zu, schütteln ein paar Hände, lächeln, Daumen hoch und machen ein Zeichen, dass wir hier schlafen möchten. Dann verziehen wir uns in das Innere unseres Onkels, genießen den Luxus einer Innendusche, kochen und gehen ins Bett. Die Dorfbewohner stehen noch lange um unseren Onkel herum und beobachten interessiert jede unserer Bewegungen. Uns stört das heute Abend nicht.